175 Jahre Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Autor: Heiner Studer, alt Nationalrat. Rede anlässlich der Generalversammlung von CPA, am 11. Mai 2023.

 

Grundsätzliches

Einer der Merksätze aus dem Französischunterricht an der Kantonsschule ist für mich der folgende: «La Constitution est le fondement de l’Etat.» Auf Deutsch: «Die Verfassung ist die Grundlage des Staates. Zu einem richtigen Staat gehören eine bestimmte Fläche Land, Menschen, die das Land bewohnen sowie Souveränität, das Selbstbestimmungsrecht dieses Staates. Alles, was zentral ist, ist in der Verfassung oder wie die Bundesrepublik Deutschland festhält, im Grundgesetz verankert.

Grundsätzlich haben die Staaten eine Verfassung. Im Zentrum müssen dabei die Rechte und Pflichten der Bewohnenden stehen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Grossbritannien kennt keine Verfassung; vielmehr entscheidet jeweils das Unterhaus (Parlament) verbindlich.

Es gibt Länder, in denen es schwer ist, die Verfassung zu ändern. So ist es in den USA. Ueber die Auslegung der Verfassung entscheidet das höchste Gericht, der «Supreme Court». Dort ist es jeweils wichtig, welche Grundhaltung die verschiedenen Richterinnen und Richter vertreten. Weil in den USA die Mitglieder des «Supreme Court» auf Lebenszeit gewählt werden, ist die jeweilige Wahl üblicherweise eine hochpolitische Angelegenheit.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde aufgrund der katastrophalen Erfahrungen der Nazizeit nach sehr sorgfältiger Ausarbeitung so konzipiert, dass es schwer veränderbar ist. Das Grundgesetz soll dauerhaft sein und parteipolitischen Stimmungen trotzen.

In Norwegen kann das Parlament (Storting) die Verfassung mit qualifizierter Mehrheit ändern. Dabei kann die zweite und abschliessende Beratung erst in der nachfolgenden Wahlperiode durchgeführt werden. Dies dient der Verhinderung von Schnellschüssen.

In unserem Land braucht es für eine Aenderung der Bundesverfassung in einer Volksabstimmung bekanntlich die Mehrheit der abstimmenden Bevölkerung und die Mehrheit der Stände, wie die Kantone offiziell genannt werden. Da gibt es ein föderalistisches Element: wenige grosse Kantone sollen nicht dominieren können.

 

Bundesstaat eine historische Leistung

Vor der Bildung des Bundesstaates gab es den Staatenbund. Auf der Gesamtebene war dieser schwach. Es ging deshalb darum, dem Bund bestimmte Kompetenzen zu gewähren, ohne die Kantone unnötig einzuengen. Ein Grundsatz war und ist, das, was zu regeln ist, jeweils möglichst nahe bei den Stimmberechtigten zu klären. Kantone sollen nur das regeln, zu dem die Gemeinden nicht befähigt sind und der Bund sollte nur dann etwas regeln, wenn die Kantone überfordert sind. Dass das in der Praxis oft nicht geschieht, kann man verstehen.

 

Zuständigkeiten gemäss Bundesverfassung

Aufgrund des föderalistischen Aufbaus unseres Landes ist der Bund dort gesetzgeberisch tätig, wo ihn die Bundesverfassung beauftragt oder durch eine Kann-Bestimmung ermächtigt. In den anderen Bereichen haben die Kantone die Kompetenz. So ist z.B. der Bund für den Tierschutz zuständig, die Kantone für den Menschenschutz. Als ich vor rund 20 Jahren Massnahmen gegen gefährliche Hunde beantragte, gab es da keine Bundeskompetenz. Viele Kantone nahmen hingegen ihre Kompetenzen wahr und verschärften ihre Hundegesetze, jedoch kantonal unterschiedlich.

Jede gesetzliche Massnahme muss eine rechtliche Grundlage auf Verfassungsstufe haben. Allerdings übergeht dies der Gesetzgeber immer wieder in Kenntnis der Rechtslage. Das ist unverzeihlich. So hatten die Einführung der Samenspende für lesbische Paare und die Einführung der embryonalen Stammzellenforschung keine verfassungsrechtliche Grundlage. Leider kann das Bundesgericht bei parlamentarischen Entscheiden nicht eingreifen. Die mehrfach verlangte Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit (auch mit einem Vorstoss des Schreibenden) scheiterte spätestens beim Ständerat.

 

Die Kirchen im Bundesstaat

Der 1848 gebildete Bundesstaat ist bewusst ein föderalistischer Staat. Je nach Ort gehörte man der Römisch-katholischen oder der Reformierten Kirche an. Da die Gegensätze zwischen Katholiken und Reformierten eklatant waren, ging es u.a. darum, die verschieden gelagerten Kantone zu integrieren, indem man die Unterschiede berücksichtigte. In der Schweiz gehörte man der einen oder anderen Kirche an. Ueber lange Zeit waren 60% der Bewohnenden reformiert, 40% römisch-katholisch. Aufgrund der bestehenden Unterschiede wurde bewusst auf Regelungen auf Bundesebene verzichtet.

Die Römisch-katholische Kirche war nie bereit, sich dem Staat unterzuordnen. In den ausgeprägt reformierten Kantonen wurden die Reformierten Kirchen Staatskirchen. Die erste Bundesverfassung enthielt z.B. im Art. 41 die Gewährleistung, dass die christlichen Bewohnerinnen und Bewohner das Niederlassungsrecht in jedem Kanton erhielten, dass die freie Ausübung des Gottesdienstes «den anerkannten christlichen Konfessionen im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft gewährleistet ist» (Art. 44) und dass alle Christen in jedem Kanton vor dem Gesetze gleich sind (Art. 48). Heute hält die Bundesverfassung lediglich fest, dass für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat die Kantone zuständig sind.

 

Nie eine Trennung von Kirchen und Staat

Dies ist eine zentrale Feststellung. Eine Eidgenössische Volksinitiative für eine vollständige Trennung von Kirche und Staat wurde am 2. März 1980 von allen Kantonen und 78,7% der Stimmberechtigten abgelehnt. Die Regelungen in den einzelnen Kantonen sind sehr unterschiedlich. So gibt es Kantone, welche auch die Christkatholische Kirche anerkennen, sowie einzelne, welche die Möglichkeit der Anerkennung ausgeweitet haben. Genf und Neuenburg kennen in der Praxis eine Trennung, in Basel-Stadt sind die Aleviten anerkannt.

In einem Kanton anerkannt zu sein, bedeutet nicht unbedingt, staatliche finanzielle Unterstützung zu erhalten. Im Gegensatz zu Kantonen mit einer Art Staatskirchen können in anderen Kantonen die anerkannten Kirchen von ihren Mitgliedern Kirchensteuern erheben.

 

Kirchen damals und heute

Die erste Bundesverfassung führte zur Gleichberechtigung der Reformierten und Katholiken. Die geltende Bundesverfassung dient vor allem auch den Freikirchen. Die in der Bundesverfassung festgehaltene Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15), die Versammlungsfreiheit (Art. 22) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 23) sind von zentraler Bedeutung. Allerdings wäre es sehr wünschenswert, wenn in unserer Bundesverfassung zumindest das christliche Erbe positiv erwähnt würde.

 

Folgerungen

Vieles deutet darauf hin, dass die Bedeutung der Würde jeder Person und das gesellschaftliche Fundament der Ehe und Familie von einem christlichen Weltbild geprägt wurden. Auch staatspolitische Errungenschaften wie die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat, die direkte Demokratie und wichtige Grundwerte wie Solidarität, das Gemeinwohl, das Wohl des Schwachen und die Bewahrung der Schöpfung haben stark mit der christlichen Grundlage zu tun. Die Frage stellt sich, wie diese Werte heute wahrgenommen werden.

 

Heutige Bundesverfassung 25 Jahre alt

Die geltende Bundesverfassung besteht seit 1998. Sie ist dieses Jahr 25 Jahre alt. Bei allem, was darin aus christlicher Sicht diskutabel ist, ist sie in ihrer Gesamtheit eine gute, tragfähige Grundlage unseres Bundesstaates.

 

Heiner Studer – Begeisterter Mitgestalter unseres Staatswesens auf allen Ebenen: Gemeinderat. Grosser Rat, Nationalrat

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