Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) verlangt die Bestrafung einer Person, die «im In- oder Ausland einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert». Während das Gesetz in leichten Fällen eine Busse vorsieht, erwartet Personen, die zu ihrer unrechtmässigen Bereicherung oder innerhalb einer kriminellen Organisation gegen das Gesetz verstossen, eine schwere Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis. Jedes Jahr werden etwa 800 Personen auf Grundlage dieses Artikels verurteilt, ohne dass bekannt ist, ob sie aus humanitären Gründen gehandelt oder als Menschenhändler einen finanziellen Vorteil angestrebt haben.

Bis 2008 schützte eine Gesetzesbestimmung Personen vor Strafe, die aus ehrenhaften Motiven einem anderen Menschen halfen. Seit der Verschärfung von 2008 gehört die Schweizer Gesetzgebung zu einer der strengsten in Europa, die nicht mehr nur Menschenhändler verurteilt, sondern auch die «guten Samariter», die ihrem Nächsten in Not helfen wollen. Damit verfehlt dieses Gesetz sein prioritäres Ziel, den Menschenschmuggel zu bekämpfen.

 

Zwei sinnbildliche Beispiele

Norbert Valley, Pastor einer evangelischen Freikirche in Le Locle und früherer Präsident des Réseau évangélique suisse, wurde von der Staatsanwaltschaft des Kantons Neuenburg zu einer Geldstrafe von 1000 Franken zuzüglich 250 Franken Verfahrenskosten verurteilt. Er hatte einem befreundeten Mann aus Togo, den er begleitete, den «unrechtmässigen Aufenthalt erleichtert», da sich dieser in einer schweren Notlage befand und Suizidgedanken hatte. Der Pfarrer gab ihm die Schlüssel zu einer leerstehenden Wohnung der Kirche und ausserdem etwas Geld zur Unterstützung. Sein Rekurs vor Gericht läuft noch.

Christian Zwicky, ebenfalls Pastor einer evangelischen Freikirche, hatte abgewiesenen Asylbewerbern aus humanitären Gründen Kirchenasyl gewährt. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen stellte zwar das Verfahren wegen Geringfügigkeit ein, bürdete dem Pastor aber die Verfahrenskosten von 350 Franken auf. Darüber hinaus sind weitere Fälle bekannt; diese Beispiele sind wohl nur die Spitze des Eisbergs.

 

Gegen die humanitäre Tradition und Werte der Schweiz

Die Schweizerische Evangelische Allianz, die Heilsarmee und der Verband Freikirchen Schweiz fordertern gemeinsam eine Revision des Artikels 116 AIG. Die uneigennützige Hilfe für Menschen, die auf Schweizer Boden in Not sind, darf nicht bestraft werden – und zwar unabhängig ihres Aufenthaltsstatus. Das aktuelle Gesetz führt zu ungerechten Strafen, die der humanitären Tradition der Schweiz und Werten wie Solidarität und Nächstenliebe widersprechen. Deshalb unterstützten die drei Organisationen im 2018-2019 die von Nationalrätin Lisa Mazzone eingereichte parlamentarische Initiative zur Änderung des Ausländergesetzes weiterzuverfolgen. Diese Initiative wurde leider durch das Parlament abgelehnt. Auch die Petitionen vom Groupe de Saint François (der sich zur Unterstützung des Fall Norbert Valley gebildet hatte) und von Solidarité Sans Frontières wurden im Ständerat im 2020 abgelehnt.

 

Ein neuer Ansatz auf kantonaler Ebene?

In der Herbstsession 2020 wurde ein neues Postulat von Frau Marianne Streiff mit Unterstützung der CPA eingereicht, mit dem Ziel, dass der Bundesrat eine Revision von Art. 116 AIG prüft, damit Personen, die abgelehnte Asylbewerber transparent unterbringen wollen (solange sie nicht zurückgeschickt werden), dies tun können, ohne dafür verurteilt zu werden. Erfreulich war die Unterstützung von 15 Nationalräte aus verschiedenen Parteien. Zwar hat der Bundesrat empfohlen, das Postulat nicht weiterzuverfolgen, aber seine Antwort eröffnet Perspektiven auf kantonaler Ebene. Der Bundesrat hält nämlich fest, dass „gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erfasst der Tatbestand der Erleichterung des rechtswidrigen Aufenthalts zwar grundsätzlich alle Handlungen, die den Behörden den Erlass oder Vollzug von Verfügungen gegen Ausländer erschweren oder die Möglichkeit des Zugriffs auf diese einschränken (Urteil 6B_60/2018 vom 21. Dezember 2018 E. 2.2.1). Diese Voraussetzung ist jedoch gerade nicht erfüllt, wenn der Ausländer polizeilich gemeldet ist, die Behörde also dessen Identität und Adresse kennt und somit jederzeit auf ihn Zugriff hat (Urteil 6S.615/1998 vom 18. August 2000 E. 2. a).“ Auf der Grundlage der guten Praxis im Kanton Bern, wo die Aufnahme von abgewiesenen Flüchtlingen durch Privatpersonen erlaubt ist, ermutigt die CPA nun kantonale politische Akteure, diese Möglichkeit zu prüfen. Wir hoffen, dass diese kantonale Politik damit die Gefahr verringert, dass neue „gute Samariter“ zu Unrecht verurteilt werden.